Interview mit Stefan Ruppaner, Schuldirektor Alemannenschule Wutöschingen
Wie sich die Transformation einer Schule entwickeln, hängt von den Lernenden ab. Die Kinder selbst sind die Experten! Wenn wir darauf vertrauen und sie machen lassen, wird Schule zum Erfolgsrezept, sagt Stefan Ruppaner. Er ist Schuldirektor a. D. der zukunftsweisenden und preisgekrönten Alemannenschule in Wutöschingen. Hohenloher kennt ihn aus gemeinsamen Projekten und fragt genauer nach.
Herr Ruppaner, Sie waren in Wutöschingen fast 20 Jahre Rektor, haben die ehemalige Hauptschule zu einer der ersten Gemeinschaftsschulen Baden-Württembergs umgebaut und damit den Schulstandort gerettet. Unter Ihrer Leitung gab’s 2019 den Deutschen Schulpreis, 2023 die Auszeichnung zum mutigsten Schulleiter Deutschlands. Die Abitur-Durchschnittsnote lag bei 1,7. Als Ihren persönlichen Verdienst sehen Sie den Erfolg der Schule trotzdem nicht. Warum?
An der Transformation der Alemannenschule waren viele Menschen beteiligt. Reinhard Kahl mit seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“, der Schulgründer Peter Fratton, mein Kollegium, unser Dorf, der Bürgermeister. Allen vorweg die Kinder. Auf ihre Art haben sie das Konzept der Schule geformt und weiterentwickelt. Wir haben immer wieder von ihnen gelernt, wie’s besser geht. Dafür und dass ich ausgerechnet hier Lehrer sein durfte, bin ich sehr dankbar. Wenn ich heute dort bin, genieße ich immer noch am meisten den Spaß der Kinder am Lernen und ihre Lebensfreude.
Was konnten Sie für Ihre Schule von den Kindern lernen?
Nach dem Motto „Wenn’s das noch nicht ist, probieren wir weiter“ haben wir vieles durch Austesten erreicht. Dabei waren es wiederholt die Erfahrungen der Kinder, die uns als Schule vorwärtsbrachten. Ich denke da zum Beispiel an die Anfänge, als wir mit den ersten beiden Klassen – 2010, also damals noch als Hauptschule – aufs selbstständige Lernen umsattelten. Probeweise zunächst nur in zwei Fächern, Mathe und Deutsch. Ein paar besonders schnelle Kinder fingen plötzlich auf eigene Faust an, in der für Deutsch vorgesehenen Lernzeit Geografie zu erledigen. Wir dachten: Das kann nicht sein! Das geht doch nicht! Sahen die Kinder aber völlig anders und haben trotz Restriktionen weitergemacht. Spätestens da haben auch wir Erwachsenen kapiert, dass die Kinder die besseren Experten für ihr Lernen sind.
Was war die Konsequenz dieser Einsicht?
Wir haben sie machen lassen. Sollen sie doch Geografie lernen, wenn sie mit Deutsch fertig sind! Oder Bio. Oder Kunst. Individuelles und selbstorganisiertes Lernen will ja genau das: Dass die Kinder selbst entscheiden, was sie wann lernen wollen, wie sie das tun und in welchem Tempo. Zunächst haben wir dann auch bei anderen Fächern Zeit fürs freie Lernen abgezwackt und den Unterricht schließlich komplett aufgelöst. Die weitreichendste Konsequenz war sicher, dass wir die komplette Schule umbauen mussten. Wir hatten keinen Klassenverband mehr. Wozu brauchten wir also Klassenzimmer? Erst haben wir überall Wände eingerissen, später vieles erweitert und neu gebaut. 920 Kinder brauchen Platz.
Hatten die Kinder auch bei den Räumen Mitspracherecht?
2019, als wir die gymnasiale Oberstufe einführten, klappte das tatsächlich! In den Jahren davor ging es bei der Planung oft viel zu temperamentvoll und chaotisch dafür zu. Der Grund: Wir hatten plötzlich einen enormen Zulauf an Kindern, mussten räumlich schnell und flexibel reagieren. In dieser Phase hatte unsere Architektin auch die rettende Idee zu den ikonischen „Hühnerställen“ im weißen Lernhaus, die viele mit der Alemannenschule verbinden. Das Lernatelier der Oberstufe im roten Haus sieht dagegen etwas anders aus. Die Großen haben das selbst so entschieden.
Inwiefern?
In den „Hühnerställen über zwei Etagen“ und allen anderen Lernateliers der Klasse 1 bis 10 hat jedes Kind seinen eigenen Schreibtisch. Das brauchte die Oberstufe nach eigenem Empfinden nicht. Stattdessen wünschten sie sich freie Platzwahl, wie sie das aus der Uni oder Coworking Spaces kennen. Sie lernen ja ohnehin viel in Lerngruppen oder mobil über DiLer. So spart es viel Platz – und wir haben es genauso umgesetzt.
Antriebsfeder für den MINT-Bereich, der zusammen mit Hohenloher entstanden ist, war ein sehr menschliches Bedürfnis der Kinder. Richtig?
Richtig. Bei der Oberstufenplanung kam Hohenloher als Bildungsraumexperte dazu. Wir hatten ja keinerlei Erfahrung, wie man MINT-Räume konstruiert und ausstattet. Dass sich die Kinder dort wohlfühlen, war bei allen Überlegungen unser größter Antrieb. In einer Schule ist das generell sehr wichtig, im naturwissenschaftlichen Bereich aber schwerer umsetzbar. Steriles Weiß, kühle Kacheln, starre Labortische: Das wollten wir alle nicht! Deshalb ist er hier so wohnlich geworden. Hell, freundlich. Die großzügigen 200 m2 sieht man gut von außen ein. So wissen alle, wer gerade experimentiert, wer will, kann dazukommen oder den Raum parallel nutzen. Hier wird kein Kind durch enge Belegungspläne in seiner natürlichen Neugier ausgebremst.
Wohlfühlen ist das eine. Chemieräume können aber auch zur Gefahrenzone werden. Wie gehen die Kinder damit um?
Sie fragen, wenn sie an den Chemikalienschrank wollen. Ansonsten darf auch hier alles selbstständig erforscht und entdeckt werden. Denn darauf kommt’s an, wenn wir später selbstständige Erwachsene erwarten. Bei der Einschulung erhalten alle Kinder automatisch einen Vertrauensvorschuss. Wer den verspielt, muss sich mit weniger selbstbestimmten Freiheiten zufriedengeben. Bei allen anderen wachsen diese. Selbstverantwortung hat die Oberstufe also komplett verinnerlicht.
Lernende stark in den Transformationsprozess einbinden. Ist das ein Erfolgsrezept für die Zukunft, das Sie auch anderen Schulen empfehlen würden?
Ja. Schon deshalb, weil Kinder unglaublich viele gute Ideen haben! Wenn ich mich zurückerinnere, dann immer wieder so: Ich hocke zwischen den Kindern auf dem Fußboden, frage sie, was wir anders machen könnten, und sie sprudeln nur so vor Vorschlägen. Wenn sich Kinder in der Schule wohlfühlen und selbst zu einem gelungenen Schulleben beitragen, ändert das alles. Viele Probleme anderer Schulen haben wir hier nicht. Vandalismus, zum Beispiel! Zum einen, klar, weil wir keinen Druck erzeugen, der sich entladen muss. Die Kinder erhalten ihre Umgebung aber auch wie einen Schatz, weil sie wertschätzen, dass sie ihnen beim Lernen hilft.
Eine letzte Frage: Sie sind offiziell einer der mutigsten Schulleiter Deutschlands. Was entgegnen Sie Kritikern, die an Ihrem Konzept zweifeln?
Besorgten Eltern sage ich: Wenn ein Kind jahrelang gern zur Schule geht, kann man gar nicht verhindern, dass es dabei eine Menge lernt. Wer sich wohlfühlt, lernt automatisch. Wer Freude am Tun hat, hat auch Erfolg. Und wenn’s irgendwo doch mal hapert? Dann können wir die Experten vor Ort nach Ideen fragen.
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